Zur Geschichte von Simplon Dorf
Die Anfänge der Geschichte der Talschaft und des Dorfes Simplon liegen aufgrund fehlender Quellen weitgehend im Dunkeln. Die ältesten Spuren, die auf die Anwesenheit von Menschen in diesem Gebiet schliessen lassen, wurden in den letzten Jahren bei archäologischen Untersuchungen auf dem Simplonpass gefunden. Sie reichen in die Jungsteinzeit (5’500-2’200 v. Chr.), vereinzelt sogar bis in die Mittelsteinzeit (9’500-5’500 v. Chr.) zurück. Wie jüngste Ausgrabungen in Glis zeigen, bestanden bereits damals Handelsbeziehungen zwischen dem Oberwallis und dem schweizerischen Mittelland einerseits sowie dem Ossolagebiet und dem Tessin anderseits.
Die Quellenlage für die römische Zeitepoche und das Frühmittelalter bis weit ins Hochmittelalter hinein lässt ebenfalls nur wenige gesicherte Aussagen zur Geschichte des Passes und des Dorfes zu. Was jedoch bald einmal klar zutage tritt, ist die Tatsache, dass Pass- und Dorfgeschichte aufs Engste miteinander verknüpft sind. Sich bald ergänzend, bald konkurrenzierend prägten der Passverkehr und die Berglandwirtschaft seit eh und je das Leben in der Talschaft. Sie erlebte immer dann einen Aufschwung, wenn Handel und Verkehr über den Pass florierten.
Das Dorf selber dürfte um 1200 herum von alemannischstämmigen Oberwallisern aus dem Talkessel von Brig gegründet worden sein. Damit zählt es mit zu den ersten und ältesten Südwalsersiedlungen. 1267 wird erstmals eine Kirche von Simplon erwähnt, was auf die Existenz einer Pfarrei Simplon schliessen lässt, und 1307 begegnen wir ein erstes Mal einer Gemeinde Simplon. Wir befinden uns damit im Hochmittelalter, in jener Zeit also, als der Simplon eine erste Hochblüte als wichtige Handelsroute zwischen der Lombardei und der Champagne erlebte. Die erste urkundliche Erwähnung des Johanniter- oder Malteserhospizes in Gampisch unterhalb der Passhöhe im Jahr 1235 passt ebenfalls gut in diesen grösseren historischen Zusammenhang.
Etwas eigenartig wirkt auf den ersten Blick der Umstand, dass Simplon Dorf den heiligen Gotthard als Kirchenpatron verehrt. Er wird 1359 erstmals urkundlich als solcher erwähnt, dürfte jedoch schon bei der Gründung der Pfarrei, die wohl noch in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts erfolgte, als Schutzpatron dieses Gotteshauses eingesetzt worden sein. Erklären lässt sich diese Gegebenheit vermutlich mit der zeitlich parallel erfolgten Erschliessung der beiden wichtigen Nord-Süd-Routen am Gotthard und am Simplon um 1200 herum. Sie standen nämlich damals im Zentrum eines mitteleuropäischen Spannungsfeldes mit der Grafschaft Savoyen und dem Königreich Frankreich im Westen, dem Herzogtum Mailand im Süden sowie Habsburg-Österreich beziehungsweise dem Deutschen Reich im Norden und Osten. Die beiden Routen über die Alpen bildeten einerseits je einen Teil dieses gleichen wirtschaftlichen und politischen Systems, waren aber anderseits Konkurrenten innerhalb desselben. Und so holte man sich den heiligen Gotthard im Stil eines mittelalterlichen Reliquienraubes als Schutzpatron aus der Zentralschweiz ins Oberwallis.
Ihre zweite Hochblüte erlebten Pass und Dorf im 17. Jahrhundert. Wie mehrere Inschriften entlang der Strecke belegen, liess Kaspar Stockalper (1609-1691) den mittelalterlichen Saumweg mehrfach ausbauen. Er verstand es, die Wirren des Dreissigjährigen Krieges (1618-1648) zu seinen Gunsten zu nutzen, indem es ihm gelang, beträchtliche Warenströme von Oberitalien nach Nordwesteuropa auf die Simplon-Route umzulenken. Mit dem Alten Spittel (1666) baute er unterhalb der Passhöhe das zweite Simplon-Hospiz. Im Dorf selber zeugt noch heute entlang des alten Saumwegs von der Suschta hinunter auf die Doorfblatta und über den Doorfplatz hinunter ins Schtutzji eine ganze Reihe von Häusern aus dieser Zeit von einer das Dorfbild stark prägenden Bauphase.
Ein drittes Mal stand die Talschaft Simplon ganz am Anfang des 19. Jahrhunderts im Zentrum des internationalen Interesses. Zur Verwirklichung seiner militärischen und politischen Interessen erteilte Napoleon den Befehl zum Bau der ersten mit Kanonen befahrbaren Strasse über die Alpen, und zwar über den Simplon (1800-1805). Im Dorf selber entstand dadurch eine neue Hauptachse – die jetzige Hauptstrasse. Ihr entlang lässt sich bis heute eine deutlich jüngere Bauphase im Ortsbild erkennen. Auf der Passhöhe entstand das dritte Hospiz (1831), das noch immer von den Augustiner Chorherren betrieben wird.
Die aus militärischen Bedürfnissen und Überlegungen heraus entstandene Strasse über den Simplon diente jedoch nach Napoleons Sturz bald einmal auch ganz anderen Zwecken wie etwa dem Handel oder dem Tourismus. Das Postkutschenzeitalter begann und liess die Dorfschaft etwas vom Hauch der grossen weiten Welt spüren. Ob allerdings die oft heraufbeschworene Postkutschenromantik für alle Einheimischen ein Segen war, darf mit Recht bezweifelt werden.
Als Folge der Errichtung der Eisenbahnlinien über den Brenner (1867), durch den Mont Cenis (1871), den Gotthard (1882), den Simplon (erste Röhre 1906, zweite Röhre 1921) und schliesslich den Lötschberg (1913) brach die Zahl der Reisenden und der Warentransporte über den Simplon völlig ein. Dies zog den Verlust zahlreicher Verdienstmöglichkeiten nach sich. Gleichzeitig nahm in jenen Jahrzehnten die Dorfbevölkerung stetig zu. Wie andere Orte in der Region wurde auch Simplon Dorf zu einem Auswandererdorf. Zwischen 1860 und dem Ersten Weltkrieg mussten rund 150 bis 200 Simpilärinnen und Simpilär ihre Heimat verlassen.
Seit 1960 ist die Strasse über den Simplon als N9 (heute A9) Teil des Schweizerischen Nationalstrassennetzes und damit ganzjährig befahrbar. Bei Simplon Dorf wurde sie auf die gegenüberliegende Talseite verlegt, so dass das Dorf heute vom Durchgangsverkehr entlastet ist. Die Zahl der Lastwagen und Sattelschlepper nimmt aber laufend zu. Inzwischen sind es bereits deren 90’000 pro Jahr. Und da am Simplon keinerlei Beschränkungen gelten, werden ausserdem die Transporte von Gefahrengütern immer zahlreicher. In absehbarer Zeit drängen sich hier gewisse Anpassungen auf.
Und dennoch hat das Simplongebiet dem interessierten Besucher oder Feriengast einiges zu bieten. An erster Stelle ist da mit Sicherheit die einmalig schöne Bergwelt mit ihrer vielfältigen und einzigartigen Fauna und Flora zu erwähnen. Aber auch das 300-Seelen-Dorf selber ist etwas Besonderes. Wer hierher kommt, entdeckt nicht ein typisches Walliser Dorf mit dunkelbraunen oder nahezu schwarzen Holzhäusern wie z. B. im Goms. Hier sind auf den ersten Blick fast nur Steinhäuser mit den in dieser Gegend typischen, italienisch anmutenden Steinplattendächern zu sehen. Dank dieser eindrücklichen Dächerlandschaft gehört Simplon Dorf zum Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz (ISOS). Hinzu kommt, dass der Verein «Die schönsten Schweizer Dörfer» Simplon Dorf seit 2020 als fünftes Walliser Dorf – neben Ernen, Evolène, Grimentz und Saillon – in seiner Liste der auserwählten Dörfer führt.
Renato Arnold / 1. Februar 2022